Liebe Schwestern und Brüder!
"Unmöglich können wir schweigen über das, was wir gesehen
und gehört haben" (Apg 4,20).
Als man den Aposteln verbieten wollte, noch weiter von Jesus
zu sprechen, gaben sie diese Antwort. Das war damals, "in jener Zeit", am
Anfang der Kirche, nach Pfingsten. Sie ließen sich nicht hindern, von dem zu
sprechen, was sie mit Jesus erlebt hatten. Und so geschah Mission. Keine
staatliche Macht half dabei. Kein gesellschaftlicher Druck drängte dazu,
Christ zu werden. Oft war das Gegenteil der Fall. Unverständnis,
Widerspruch, ja Feindschaft und Verfolgung begegneten dem Christentum. Aber
auch Neugierde, Sinnsuche und eine tiefe Sehnsucht nach dem unbekannten
Gott. Und so verbreitete sich der Glaube an Jesus Christus durch das
persönliche Zeugnis und durch das Wirken des Heiligen Geistes, der Herzen
und Türen für das Evangelium öffnete.
Heute stehen wir wieder in einer ähnlichen Situation: viel
Gegenwind, Unverständnis, Ablehnung, aber auch viel Sehnsucht und Suche, oft
nicht bei der Kirche, sondern bei zweifelhaften Quellen. Sicher ist: Wir
sind neu gefordert, durch persönliches Zeugnis Menschen für Christus zu
gewinnen.
Manche persönliche und gemeinsame Erfahrungen der letzten
Jahre haben viele von uns ermutigt, den Weg der Mission bei uns neu zu
entdecken. Da war die große Wiener Stadtmission, da gab es Kontaktwochen in
mehreren Dekanaten. Der Weinviertler Pilger- und Glaubensweg wächst und
bringt Frucht. Initiativen wie die Lange Nacht der Kirchen oder die
Valentinsaktion breiten sich sogar über unsere Diözesangrenzen hinweg
aus.
Mit dem Prozess "Apostelgeschichte 2010" lade ich Sie alle ein, diesen
begonnenen Weg gemeinsam diözesanweit zu gehen. Mein ausführlicher
Hirtenbrief, der in den Pfarren aufliegt und auf www.stephanscom.at allen
zugänglich ist, stellt das Anliegen, um das es mir geht, im Einzelnen dar.
Ich darf ihn herzlich Ihrer Lektüre empfehlen. "Der Sonntag" wird in einer
Serie umfassend darüber berichten.
Die Leitfrage für den Prozess "Apostelgeschichte 2010", die ich mir und
uns allen stelle, lautet: Was ist es also, worüber wir heute unmöglich
schweigen können? Wenn ich darauf im Blick auf meine eigene Lebenserfahrung
antworten darf, dann so, wie ich es auch in meinem Bischofsmotto ausdrücke:
"Euch aber habe ich Freunde genannt" (Joh 15,15). Wenn es eine Erfahrung
gibt, die ich als die "Grundmelodie" in meinem Leben betrachten darf, so ist
es diese Freundschaft. Sie ist der rote Faden durch alle Phasen meines
Lebens. Jesus lädt uns ein zur Freundschaft. Und wir dürfen in diese
Freundschaft hineinwachsen. Darüber kann ich nicht schweigen. Ich habe diese
Freundschaft als den großen Schatz in meinem Leben entdeckt. Sie ist mir
Trost und Freude. Sie hilft mir, mich selber anzunehmen, sie lädt mich ein,
andere mit dem Blick der Freundschaft Jesu zu sehen. Sie prägt, so hoffe
ich, meine Art, die Menschen und die Situationen zu sehen. Und sie weckt in
mir immer neu den Wunsch, anderen von dieser Freundschaft zu erzählen.
Mission ist für mich darum immer die Einladung, das Glück dieser
Freundschaft kennen zu lernen.
Freundschaft mit Jesus, das heißt zum einen: Zeit für die Begegnung, das
hinhörende Stillsein in Seiner Gegenwart, bevorzugt in Seiner
eucharistischen Gegenwart im Tabernakel. Freundschaft mit Jesus, das heißt
zum anderen: eine wache Aufmerksamkeit für die, mit denen Er sich besonders
identifiziert - die Armen, die Kranken, die Fremden, die Gefangenen, die
Ausgestoßenen, die Sünder,…
Freundschaft mit Jesus, das heißt schließlich: Mit Seinen Augen sehen
lernen, mit Seinen Gedanken vertraut werden, Seinen Willen suchen und zu tun
versuchen. Und vor allem: mit Seinem Herzen verbunden sein.
In den letzten Jahren ist mir eines immer mehr zur Gewissheit geworden:
Mit Jesus verbunden sein, in Seiner Freundschaft leben, das heißt vor allem
barmherzig werden, wie Er es ist. Auch wenn es mir oft nicht gelingt, es zu
sagen, und vor allem: es zu leben. Aber eines weiß ich sicher: Ich habe die
Barmherzigkeit Jesu erfahren, und ich wünsche mir, dass andere, alle, das
auch erfahren.
Die Freundschaft Jesu und Seine Barmherzigkeit: Das ist für mich die
Mitte meines Lebens und meines Hirtendienstes. Mit dem Prozess
"Apostelgeschichte 2010" will ich mit Ihnen diesen Weg der Freundschaft neu
entdecken.
Mit großer Dankbarkeit blicke ich auf die dreizehn Jahre, in denen ich
als Bischof der Erzdiözese Wien mit Euch auf dem Weg sein darf. Ich bin
immer wieder davon berührt, wie sehr diese Stadt und dieses Land vom
Christentum, vom persönlichen Engagement so vieler Menschen geprägt sind.
Ein feinmaschiges Netz an Gottes- und Nächstenliebe ist quer über die ganze
Erzdiözese gespannt! – Weil Christinnen und Christen aufmerksam sehen, was
zu tun ist, wo Not ist, und tatkräftig zupacken.
Die Sozialaktion "72 Stunden ohne Kompromiss" der Katholischen Jugend
lässt uns das auch heuer im Oktober wieder eindrucksvoll erleben.
Schmerzlich erleben wir aber auch, wie vieles an christlichem
Lebensverständnis heute in unserer Gesellschaft an den Rand gedrängt wird.
Wie wir nicht mehr gefragt werden, wie unsere Stimme leise geworden ist
unter all den Stimmen, die heute vielfach den Ton angeben.
Wir stehen inmitten großer Herausforderungen. Nicht nur der
gesellschaftliche Wandel und die bedrohliche finanzielle und wirtschaftliche
Krise drängen uns, innezuhalten und manches zu überdenken. Was uns wirklich
herausfordert, ist die Sendung Jesu selber, an der wir ja durch Taufe und
Firmung Anteil haben, die Jesus durch uns leben und verwirklichen will: "Der
Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich
gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den
Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich
die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe."
(Lk 4,18f)
Jesu Sendung – unser Auftrag! Bei der Größe dieser Aufgabe und der
Armseligkeit unserer Mittel und Kräfte kommt mir die Situation der Apostel
bei der Speisung der Fünftausend in den Sinn: "Wir haben nur fünf Brote und
zwei Fische" (Mt 14,13-21).
"Was ist das für so viele?" (Joh 6,9). Wir hätten gerne mehr
in der Hand. Wir erleben heute schmerzlich unsere Armut, unsere (fast)
leeren Hände. Wie damals gilt auch heute: Geben wir das wenige, was wir
haben, Christus in die Hände. Er kann daraus viel machen! Es ist ja Seine
Kirche, und Er hat versprochen, bei uns zu sein alle Tage (vgl. Mt
28,20).
Drei Hinweise zum Schluss auf den Prozess "Apostelgeschichte 2010", drei
Bitten an Sie alle:
- Eine herzliche Einladung zur Diözesanwallfahrt nach Rom vom 30. April
bis 4. Mai 2009 "auf den Spuren des Apostel Paulus", um in die Fußstapfen
des großen Missionars zu treten. [Beim Verlesen bitte hinweisen auf die
pfarrlichen Anmeldemöglichkeiten oder auf ww.stephanscom.at!]
- Es sind drei große Diözesanversammlungen geplant, die Einladungen dazu
werden bald folgen. Die vorbereitenden Impulse und Fragen habe ich für alle
im Hirtenbrief dargelegt, mit der Bitte um eine intensive
Auseinandersetzung damit. Es wird uns sehr helfen, gemeinsam auf das zu
hören, "was der Geist den Gemeinden sagen will" (vgl. Offb 3,6). Wir
brauchen den Austausch an Erfahrungen und Ideen, wie wir heute altbewährte
und neue Wege der Verkündigung gehen.
- Allem voran ist das Gebet gefragt, wie sich die Kirche des Anfangs
"einmütig im Obergemach" traf, um den Heiligen Geist, die Kraft von oben zu
empfangen, die Apostel, "zusammen mit den Frauen und mit Maria, der Mutter
Jesu, und mit seinen Brüdern" (Apg 1,13f).
Schließlich lade ich Sie alle herzlich ein, sich das folgende Gebet zu
Eigen zu machen, das es auch auf "Gebetskärtchen" gibt, und das uns mit der
vorpfingstlichen, betenden Urkirche verbindet:
Herr Jesus Christus, du bietest uns deine Freundschaft an.
Durch deine Gegenwart schenkst du uns Freude in Fülle
und gibst uns Hoffnung.
Du hast uns durch die Taufe in deine Gemeinschaft gerufen.
Wir sind bereit deine Zeugen in unserer Welt zu sein.
Im Vertrauen auf deine Liebe und Barmherzigkeit
lassen wir uns senden.
Stärke uns mit deinem Heiligen Geist!
Lass dein Licht durch uns leuchten,
damit wir als wahrhaft Liebende Licht der Welt sein können
und so zum Segen für unsere Mitmenschen werden. Amen.
Mit Euch in Christus verbunden
erbitte ich den Segen Gottes,
+ Christoph Kardinal Schönborn
Erzbischof von Wien
Wien, am 1. Oktober 2008, dem Fest der Hl. Therese von Lisieux.
Hirtenbrief
zur Apostelgeschichte 2010 als PDF
(red)
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