"Unmöglich können wir schweigen"
© Rupprecht@kathbild.atWortlaut der Predigt von Kardinal Christoph Schönborn bei der Chrisammesse am 6. April 2009 im Dom zu St. Stephan. Der Beginn des "Prozesses Apostelgeschichte 2010" in der Erzdiözese Wien.

Gelobt sei Jesus Christus!

Liebe Brüder und Schwestern, liebe Weihbischöfe, Domkapitulare, liebe Presbyter, Diakone, Seminaristen, liebe Firmkandidaten, liebe Gläubige, liebe Brüder und Schwestern!

"Unmöglich können wir schweigen über das, was wir gesehen und gehört haben" (Apg 4,20). Mit diesen Worten aus der Apostelgeschichte habe ich meinen etwas langen Hirtenbrief vom 1. Oktober des vergangenen Jahres begonnen, der das große Projekt "Apostelgeschichte 2010" vorgestellt hat. Es ist ein Wort, das Petrus und Johannes vor dem Hohen Rat gesprochen haben, als man ihnen verbieten wollte, weiter über Jesus zu reden.

"Unmöglich können wir schweigen!" Was ist es, worüber wir unmöglich schweigen können? Das war die Frage des Hirtenbriefs, das ist die Frage, die ich heute stelle, besonders uns Presbytern, aber auch uns allen: Was bewegt uns so, dass es einfach "heraus muss"? "Wess’ das Herz voll ist, dess’ geht der Mund über." Was geht bei uns über die Lippen? Was können wir nicht verschweigen? In den letzten Wochen war es oft Verunsicherung, Trauer, Ärger, Resignation. Aber ich habe in den letzten Wochen auch anderes erfahren: Manchmal stiller als das, was an lautem Ärger zu hören war, etwas, was aus dem Herzen kommt: Menschen, die vom Glauben reden, von dem, was sie wirklich im Herzen haben und was aus dem Herzen kommt.

Heute möchte ich besonders Euch sagen, Mitbrüder im Presbyterium, aber auch den Diakonen, den Seminaristen, und auch den jungen Leuten, die sich auf die Firmung vorbereiten, was mich bewogen hat, diesen Prozess "Apostelgeschichte 2010" zu beginnen, und ihn Euch ans Herz zu legen, Euch dazu einzuladen. Das heutige Evangelium führt uns gewissermaßen an den Anfang der großen Mission Jesu. In seiner Heimatstadt, in Nazareth, war das gewissermaßen der "Kick off", — würde man heute sagen —, der Startpunkt der großen Evangelisation, und dabei hat Jesus in der Synagoge von Nazareth sein Programm vorgelegt, seine Mission (sein "mission statement" abgegeben), ausgehend von dem Jesaja-Text, den wir in der ersten Lesung gehört haben: "Der Geist des Herrn ruht auf mir, er hat mich gesalbt, er hat mich gesandt. Wozu? Um den Armen eine gute Nachricht zu bringen, den Gefangenen Entlassung, den Blinden das Augenlicht, den Zerschlagenen die Befreiung, und ein Gnadenjahr des Herrn auszurufen." Und er hat geschlossen: "Jetzt, heute, ist das in Nazareth Wirklichkeit geworden."

Das ist die Urzündung des Evangeliums. Damit hat es begonnen, und damit beginnt es auch heute, denn das Evangelium startet immer neu mit dieser Urzündung, mit dieser Initialzündung. Aber was ist Jesus damit passiert, wie ist es seiner Mission gegangen, die er mit 30 Jahren begonnen hat? Ich glaube, wir sind heute in einer Stunde, in der sich ganz ähnliche Fragen stellen. Woher kommt diese Bewegung, der die Bewegung Jesu angetrieben hat. Was hat Jesus selber bewegt? Was hat seine ersten Anhänger bewogen, zu sagen "Wir können unmöglich schweigen über das, was wir gesehen und gehört haben"?

Wenn wir auf diese Anfänge Jesu und der Kirche schauen, dann fallen mir zwei Dinge besonders auf: Das erste ist: Das Programm ist großartig. Es ist das ideale Programm. Es hat eine große, starke Faszination, es hat eine prophetische Kraft, es ist voller Hoffnung, aber da ist gleich ein zweites: Es stößt von Anfang an auf Widerstand, auf Unverständnis, es tut sich schwer. Zuerst tut es sich schwer bei den eigenen Leuten. In Nazareth kommt Jesus bei seinen eigenen Leuten nicht gut an. Ja, die Sache geht fast tödlich aus; wir wissen, wie es weitergeht: Als Jesus noch ein bisschen weiterspricht, kommt es zu einem Wutausbruch unter seinen Landsleuten, und sie wollen ihn den Felsen hinabstürzen, sie wollen ihn schlicht und einfach umbringen. Und die Familie Jesu, seine Verwandtschaft ist nicht viel besser. Sie sagen, er ist verrückt geworden, und sie wollen ihn mit Gewalt wieder zurückholen zu seinem normalen Alltag, dass er wieder "vernünftig" wird, wie der Evangelist Markus berichtet. Aber es formiert sich auch sehr schnell ein äußerer Widerstand: Ablehnung gegen Jesus, und sie wird immer schärfer und führt schließlich, wie wir es in dieser Woche wieder erleben, zum Kreuz. Also ein großartiges Programm und eine sehr zögerliche Annahme dieses Programms.

Und wie geht es uns damit, zuerst intern und dann extern?

Wir sind geneigt zu klagen: "Es geht uns schlecht". Ich habe versucht, im Hirtenbrief meine Sicht der Lage ein wenig darzustellen. Wenn ich mit dem Positiven begonnen habe, war das kein Zweckoptimismus, sondern meine innerste Überzeugung, weil ich überzeugt bin, dass es so ist.

Ich nenne nur drei kurze positive Punkte:

Erstens: Unser Land ist bis heute wesentlich von den christlichen Wurzeln geprägt, vom christlichen Erbe, bis ins Soziale, ins Künstlerische und in die ganze Landschaft.

Zweitens: Wie großartig trotz aller Defizite, die wir haben, das feinmaschige Netz von 660 Pfarren gewoben ist, das sich über die ganze Diözese und über das ganze Land erstreckt. Es ist ein feinmaschiges Netz an Nächstenliebe und Gottesliebe. Dazu die vielen Ordensgemeinschaften, die Bewegungen und Gemeinschaften. Das müssen wir einfach positiv sagen: Das gibt es vergleichsweise nirgends anderswo. Keine andere Wirklichkeit in Österreich kann damit verglichen werden. Und das sollen wir positiv sehen und uns darüber freuen und Gott dafür danken.

Drittens: Wie viel gelebter Glaube in unseren Gemeinden und in unseren Gemeinschaften!

Aber es gibt auch die Sorgen, ich habe sie im Hirtenbrief ausführlicher erwähnt. Die große Sorge der demographischen Entwicklung. Ganz nüchtern die Frage: Wie sieht die Zukunft unserer Gemeinden aus, einfach im Blick auf die Demographie? Und was bedeutet das für gesellschaftliche Veränderungen für unser Land, ich nenne nur das Stichwort "Islam".

Unser christliches Lebensverständnis wird mehr und mehr an den Rand gedrängt, in ganz Europa, aber auch in unserem Land, zum Teil sehr aggressiv. Denken wir nur an die Fragen des Lebensschutzes, der Euthanasie, der Abtreibung, denken wir an die Gender-Ideologie. Faktum ist: Wir werden in vieler Hinsicht marginalisiert.

Wir spüren immer wieder schmerzlich, dass wir medial auf bestimmte Themen fixiert werden, oft erscheint dies fast ausweglos. Die wichtigen und wesentlichen Anliegen der Kirche kommen kaum zur Sprache, und wenn, dann oft sehr verzerrt, wie die skandalöse Berichterstattung über die Afrikareise des Papstes. Was ist davon bei uns herübergekommen?

So geht die Kirche, wie der hl. Augustinus, in einem Wort das Konzil zitierend, ihren Weg "zwischen den Bedrängnissen der Welt und den Tröstungen Gottes".

"Apostelgeschichte 2010" sehe ich vor allem als einen Weg, zu dem ich Euch und Sie alle, sehr herzlich einlade. Es ist der Weg der ersten Jünger, die neugierig waren auf Jesus und hinter ihm hergegangen sind. Als er sie fragte, "Was wollt ihr?", haben sie gesagt: "Meister, wo wohnst du?" "Kommt und seht", war die Antwort. Es ist ein Weg der Freundschaft, der Freundschaft mit Jesus, Ihn zu entdecken, Seine Freundschaft, Seine Zuwendung, Sein Vertrauen in uns, und in Antwort darauf, Ihm zu vertrauen, Ihn zu entdecken, Sein Wort zu hören, Seine Gemeinschaft zu suchen, und vor allem Seine Barmherzigkeit zu erfahren. Ich darf das wirklich sagen, wie ich es im Hirtenbrief gesagt habe: Das ist die Grundmelodie meines eigenen Lebens: Die Barmherzigkeit des Herrn zu erfahren. Ich hoffe, dass das auch die Grundmelodie meines bischöflichen Dienstes und Eures bischöflichen, priesterlichen, diakonalen Dienstes ist, und auch unserer Gemeinden. Ich sage den Seminaristen immer wieder, was ich von ihnen erwarte, wenn sie Priester werden möchten: dass sie eine Leidenschaft haben für Gott, für Christus, und eine Leidenschaft für die Menschen. Mit Seinen Augen, mit Seinem Herzen die Menschen zu sehen. Ich bin sicher, es gibt diese jungen Männer für den Priesterberuf, diese jungen Frauen für die Ordensberufe. "Meister, wo wohnst Du?" Aber trauen wir uns, sie anzusprechen. Sprechen wir sie an! Ich erlebe es so oft in den Gemeinden, dass es junge Menschen gibt, die ansprechbar sind, wenn wir uns nur trauen.

Für Oktober lade ich zur ersten der drei Diözesanversammlungen ein, die Einladungen dazu sind bereits verschickt worden. Jede Pfarre hat drei Delegierte zu schicken, und alle Einrichtungen der Diözese, Orden, Bewegungen, zwei Delegierte. Leitlinie dabei ist die Apostelgeschichte, und im Grunde geht es mir um zwei Grundbewegungen in der Apostelgeschichte, um zwei Erfahrungen: Ganz am Anfang des Apostelkonzils drohte ein großer Konflikt die Kirche zu zerreißen. Aber die Apostel haben nicht zuerst miteinander gestritten, sondern sich gefragt: Was hat jeder von uns mit Gott erfahren? Tauschen wir das aus! Wie haben wir Seine Gegenwart, Sein Wirken erlebt? Und wie zeigen sich darin auch unsere unterschiedlichen Zugänge und Sensibilitäten?

Als zweites wollen wir uns fragen: Wie geht es uns im Vergleich zu Paulus? Die beiden letzten Worte der Apostelgeschichte, als Paulus in Rom in einer Mietwohnung unter Hausarrest war, als Gefangener, da heißt es, er habe ständig vom Reich Gottes geredet, "mit großer Zuversicht, ungehindert". Was hindert uns, strukturell, organisatorisch, aber auch in uns selber? Was sind die Hindernisse (obwohl wir nicht gefesselt sind wie Paulus), das Reich Gottes mit Zuversicht zu verkünden? Über diese Hindernisse wollen wir auch ganz offen und ehrlich miteinander reden, die strukturellen und die persönlichen.

Der zweite Tag der Diözesanversammlung wird mit einem großen "Abend der Barmherzigkeit" hier im Dom abschließen, zu dem alle in der Diözese herzlich eingeladen sind.

Zum Schluss noch ein persönliches Wort: Ich wurde oft in den letzten Tagen, in den letzten Wochen gefragt, wie es mir geht. Was soll man darauf antworten? Es waren zum Teil sehr, sehr schmerzliche und schwierige Momente, und es bleiben viele offene Fragen. Wenn ich sage, wie geht es mir, dann stelle ich auch die Frage an Euch, an Sie: Wie geht es Euch? Wie geht es Ihnen? Wenn man sagt, "Aha, du bist auch bei der Kirche!", oder den Priestern, den Diakonen: Wie geht es Euch? Es waren sehr belastende Wochen. Manchmal Momente großer Mutlosigkeit und Ratlosigkeit. Aber ich sehe auch, dass so etwas wie eine neue Zuversicht aufkeimt. Ich bin sicher, dass das auch ein Weg der Läuterung ist. Vor allem eine Herausforderung in das Vertrauen zu Jesus. Meine Liebe zur hl. Schwester Faustina ist noch nicht sehr alt. Ich weiß, als Theologe habe ich sie früher nicht so sehr geschätzt, jetzt aber habe ich sie wirklich tief entdeckt. Sie ist die erste Heilige des 21. Jahrhunderts, von Papst Johannes Paul am Weißen Sonntag des Jahres 2000 heiliggesprochen. Was Schwester Faustina immer wieder sagt, ist, oder was Jesus ihr sagt: "Nichts schmerzt mich mehr, als wenn ihr mir nicht vertraut." Jesus hat so ein Zutrauen zu uns, dieses Trauen Gottes, der uns traut, der uns so viel Zutrauen schenkt: Vertrauen wir Gott. So möchte ich zum Abschluss beten, und ich lade Euch ein, innerlich dazu einzustimmen:

"Jesus, ich vertraue Dir. Ich vertraue Deiner Führung, Deiner Vorsehung. Ich vertraue, dass Du unserer Zeit nahe bist. Ich vertraue, dass es für Dich keine hoffnungslosen Fälle gibt. Ich vertraue, dass Du mit jedem Menschen, wie immer  die Situation ist, eine Geschichte hast. Ich vertraue, dass Du mir zeigst, uns zeigst, wie wir als Kirche in diesem Land Menschen zu Dir führen können. Und ich vertraue Dir, dass Du es selber machst."

Liebe Mitbrüder Presbyter, ich lade Euch ein, in diesem Sinne jetzt Euer Weiheversprechen zu erneuern.


+ Christoph Kardinal Schönborn
Erzbischof von Wien

Wien, am 16. Juni 2009



(red)


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